Wobei ich das inzwischen nicht mehr so negativ sehen würde. 2022 hat gute Chancen das Jahr des Wayland-Desktops zu werden. Ich bleibe dabei, dass in der Vergangenheit eine ganze Reihe vermeidbarer Fehler gemacht wurde, wodurch Waylands Verbreitung auf Jahre verschleppt wurde. So ist sicher eine gute Idee das Kernprotokoll so schlank wie möglich zu halten. Alleine schon, da nicht jedes Anwendungsszenario jede erdenkliche Funktionalität benötigt und da die Welt sich ändert. Was heute sinnvoll ist, muss es morgen nicht mehr sein. Dadurch, dass man viel in Protokollerweiterungen macht, erlangt man Flexibilität. Alte Erweiterungen werden mit der Zeit obsolet, neue kommen hinzu. Durch das unveränderte Kernprotokoll bleibt aber alles, egal ob alt oder neu, ausreichend kompatibel zueinander. Nur hätte man von Anfang an deutlich mehr Erweiterungen spezifiziert haben müssen. Die ersten Jahre funktionierten mangels entsprechender Erweiterungen nicht mal grundlegende Dinge wie Copy and Paste sauber. Es gab keine Layer, welcher man für Dinge wie Panele braucht. Die immer noch nicht abschließend geklärte Frage der Server Side Decorations, welche durchaus ihren Platz haben. Farbmanagement ist immer noch komplett in der Schwebe. Und so weiter.
Dazu kam, dass es lange Zeit keine vernünftige Implementierung gab. Ja gut, Weston. Aber das Ding war immer nur als Refrenzimplementierung und niemals wirklich als Grundlage eines Ökosystems gedacht. Die Ansage war, dass jeder Compositor den ganzen Stack bitte mehr oder weniger komplett selbst implementieren würde. Es brauchte Jahre, bis jemand die Arbeit ein Form von
wlroots
als Bibliothek bereitstellte. Selbst Projekte wie Gnome, die über vergleichsweise viel Manpower verfügen, brauchten gefühlt ewig einen Compositor mit allen Ecken und Kanten zu implementieren. Hätte man sich Weston gespart und von Anfang an etwas wie
wlroots
bereitgestellt, wären wir heute sicher wesentlich weiter.
So aber war es ein ewiges Henne Ei Problem. Zu wenig Funktionalität und die Hürde der Implementierung -> Kaum jemand nimmt Wayland erst und implementiert Compositoren -> Es bleibt bei wenig Funktionalität und der Hürde der Implementierung. Das ist inzwischen aber zum Glück erledigt und es geht vorwärts.
Ich sehe mindestens vier Gründe, warum Wayland gute Chancen hat, in diesem Jahr deutlich mehr Verbreitung zu finden:
- Seit Gnome 40 im März 2021 ist Gnomes Wayland-Session wirklich ausgereift und uneingeschränkt für den täglichen Einsatz tauglich. Es gibt noch ein paar kleinere Mägel wie fehlende Unterstützung für Variable Bildwiederholraten und eben Farbmanagement, aber die sind für die breite Masse der Nutzer nicht allzu relevant und werden sicher in naher Zukunft kommen.
- Wie @bluescreen schon schrieb, hat auch Plasma große Fortschritte gemacht und die Wayland-Session wird wahrscheinlich im Laufe des Jahres ebenfalls uneingeschränkt nutzbar werden.
- XWayland hängt nicht mehr am Tropf des xorg-server, sondern ist ein eigenständiges Projekt geworden, was schnelle Fortschritte macht und damit den Übergang von X11 zu Wayland vereinfacht. Gleichzeitig bekommen immer mehr Anwendungen bzw. Bibliotheken native Wayland-Unterstützung. Wine und SDL haben gute Chancen, in diesem Jahr Wayland als Standardoption auszuliefern. Und auch bei Mozilla und chromium fehlt nicht mehr viel.
- Das Nvidia-Problem ist endlich gelöst oder zumindest auf einem guten Weg dahin. Das nächste Fedora wird auch Nvidia-Nutzer auf Wayland umstellen, andere Linux-Distributionen werden sicher folgen. Im Übrigen war am Ende nicht das jahrelange Gepöbel gegen Nvidia erfolgreich, sondern der diplomatischere Ansatz der kwin-Entwickler Nvidia sanft zu zwingen das EGLStreams-Backend doch bitte selbst zu pflegen.
Das im Moment vielleicht größte verbleibende Problem des freien Desktops ist Fractional Scaling. Aber das ist nicht so sehr ein Wayland-Problem, tatsächlich haben Gnome und Plasma ja durchaus halbbrauchbare Implementierungen, sondern es scheitert auf allen Ebenen. Angefangen bei den Toolkits, bis runter zum DRM.